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Die Lifestyle-Krise

Sie ist die perfekte Krise für unsere Zeit, für unsere Gesellschaft: die Corona-Krise. Weil sie auf der einen Seite zeigt, was ist – viel Krisenkitsch zum Beispiel. Und weil sie auf der anderen Seite deutlich macht, was möglich wäre: mit vernünftigem Denken.

Barbara Kruger: “I shop therefore I am”

Krisen sind der Wetzstahl, an dem sich Dinge schärfen: das Gute wie das Schlechte. Und schärfen heisst auch, den Blick schärfen: hinter die gepflegten Oberflächen und auf das Binde- und Muskelgewebe, das unsere Gesellschaft zusammenhält. 

Dieses Gewebe zuckt aktuell sehr nervös und stressgeplagt. Fragt sich nur, warum unser Gesellschaftskörper so tonisch zappelt: Weil Menschen sterben? Nein, das ist eine glatte Lüge, denn das Sterben von Menschen ist uns meistens ziemlich egal. Was uns aber Sorgen macht: Wenn unser eigenes Menschenbild kränkelt – wenn unsere Selbstinszenierung angekratzt und unsere Fassaden brüchig werden. Und wenn wir Angst vor dem Ende des Lebens haben, dann sollte man auch das präzisieren: Es ist das Ende des angenehmen Lebens, welches wir fürchten. 

Die schiefe Wahrnehmung von Bedrohung.

«Menschen ertrinken im Mittelmeer, erfrieren in Flüchtlingscamps oder verhungern in der zentralafrikanischen Republik. Sie werden erschossen, zerbombt und zermetzelt, weil sie das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort Mensch zu sein. Die Sadisten und die Nekrophilen brachten und bringen unserer Welt so viel Tod, wie es die spanische Grippe, Corona und HIV zusammen nie schaffen werden. An Viren wollen wir zwar keinesfalls sterben, wegen Religion, Staat, Überzeugungen, Rohstoffen, Ehre, Geschlecht und Hautfarbe wird aber weiterhin fleissig gestorben. Und vor allem wegen Hunger, der aufgrund des Klimawandels erstmals seit 2000 wieder schlimmer wird: An Corona sind bisher 264 437 (Stand 08.05.2020) Menschen gestorben, an Hunger sterben jedes Jahr geschätzte neun Millionen Menschen, davon rund 3,1 Millionen Kinder. Aber keiner stampft deswegen Krankenhäuser über Nacht aus dem Boden, sperrt Städte ab, schließt Schulen, stoppt Züge und schickt das Militär in die Provinz. (...) Die Frage ist: Warum redet man sonst nicht darüber? Corona hat uns vor allem eines gezeigt: Wie schief die kollektive, mediale und politische Wahrnehmung von Bedrohungen tatsächlich hängt.» («Pandemie der Panik» von Barbara Plagg, Dozentin für Hygiene, Prävention und Sozialmedizin an der Uni Bozen)

Ja, unsere Wahrnehmung von Bedrohung hängt schief. Und das ist auch gut so. Denn so wie ein Brand die tragendenden Mauern eines Hauses freigibt, so zeigt die aktuelle Krise deutlich, auf welchem Gerüst unsere spätmoderne Gesellschaft aufbaut. Auf dieses Gerüst sollte man jetzt schauen, das ist die grosse Chance. Und die grosse Gefahr? Das ist unser Neigung, uns wieder mit etwas Pinselei und kleinen Fassadenrenovationen zufrieden zu geben. Nicht, dass Oberflächenpolitur prinzipiell etwas Schlechtes wäre. Aber wenn es nur um ein paar Kratzer ginge - warum reden wir dann von Krise? 

Warum brauchen wir, was wir nicht brauchen?

Wir reden von einer Krise, weil in unserer «Gesellschaft des Spektakels» (Guy Debord) gerade ein zentrales, konstitutives Simulacrum aufbricht: unsere Vorstellung vom Überflüssigen und Notwendigen. Und deren Verwechslung. Auf den ersten Blick sieht diese Verwechslung von Must-haves und Nice-to-haves eher harmlos aus. Und auf den zweiten Blick: Da hat diese Frage ziemliche Sprengkraft – für unser Wirtschaft, für die Gerechtigkeitsfrage und für die Sinnhaftigkeit unserer Gesellschaft. Denn der Unterbruch der bisherigen Routinen könnte zu einer grundsätzlichen Befragung gerade dieser Routinen führen. Also zu Fragen wie: 

  • Ist das, was wir haben, auch das, was wir brauchen?  

  • Warum brauchen wir, was wir nicht wirklich brauchen?

  • Und wie funktioniert eine Hyperkultur, die Überflüssiges zum Notwendigen macht? 

Dies sind die Fragen, die uns Corona stellt. Denn Corona zeigt deutlich: Wir leben in einer Nice-to-have-Gesellschaft mit Nice-to-have-Kinos-Bars-Coiffeuren-Restaurants-Hotels-Fussballclubs-Fitnessstudios. Und dennoch haben wir das komische Gefühl, dass unsere Nice-to-haves wichtige Must-haves sind, die wir dringend brauchen. Denn wenn wir sie nicht brauchen würden, gäbe es auch keine Corona-Wirtschaftskrise. Wir haben also eine Nice-to-have-Krise. Aber warum dann dieses Gefühl der Bedrohung? 

Symbolbewirtschaftung ohne Inhalt: Die Hipster-Filiale der UBS in Winterthur.

Nice-to-haves sind Must-haves mit kulturellem Add-on. Und es sind diese Add-ons, nach denen wir so gieren. Der Grund hierfür: Unsere Symbolwirtschaft, in der es nicht mehr um Brot geht, sondern um Pizza. Und unser Konsum, der vor allem ein Geltungskonsum ist, der Distinktionsgewinne verspricht. So wird das Anderssein zum Wertvollen: der feine Unterschied, die Differenz, der kulturelle Habitus. Darum ist auch der Corona-Tod so interessant, denn er ist speziell, während der millionenfache Hungertod unserer Aufmerksamkeit zielsicher entgeht. Schliesslich ist Massentod ja wie Massentourismus – viel zu alltäglich und für Instagram leider ungeeignet. Denn in der Gesellschaft des Spektakels muss alles zum Ereignis werden: die Erlebnisgastronomie, die Abenteuerreise, der Extremsport, der Mitarbeiter-Event und jeder private Anlass – von der Wiege bis zur Bahre. 

Das Leben als Lifestyle

Lifestyle, Selbstinszenierung und Profilierungswettbewerb: Darum geht es in einer Welt, in der «Güter nicht mehr wegen ihrer Nützlichkeit ausgewählt werden, sondern aufgrund der Bilder und Botschaften» (Frank Trentmann, «Herrschaft der Dinge»). Darum sind wir bereit, die Kreuzfahrtschiffe zu retten, während wir Flüchtlinge im Mittelmeer ersaufen lassen. Die Flüchtlinge haben halt den falschen Lifestyle und was Marie Antoinette damals sagte, sagen wir auch heute: «Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen!» 

Natürlich ist das alles zynisch. Unsere vermeintliche Solidarität ist zynisch, weil sie eine Solidarität des Hier und nicht des Jetzt ist. Und selbst unser Bio- und Fair-Trade-Konsum hat eine zynische Seite – weil er als Statusinvestition perfekt in die Lifestyle-Ökonomie passt und das Private mit dem Strukturellen verwechselt. Allerdings geben wir das nicht gerne zu: das mit dem Geltungskonsum, dem symbolischen Mehrwert und dem kulturellen Kapital. Stattdessen tun wir lieber so, als würden wir noch in einer Subsistenzwirtschaft leben und bräuchten das, was wir eben nicht brauchen. Dabei ist klar: Zwischen Nice-to-haves und Must-haves gibt es riesige Unterschiede. Die Menschen in Aleppo wissen das. Bei den hiesigen Mitbürgern bin ich mir nicht so sicher. 


Greta Thunberg oder Kim Kardashian

Symbole haben allerdings einen grossen Vorteil: Man kann sie unterschiedlich besetzen. Man kann sie mit Kitsch besetzen und damit eine Wannabe-Gesellschaft zementieren. Oder man kann das machen, worin Klimajugend und Corona-Sorgen sich ähneln: Man kann sich einem Menschenbild zuwenden, welches das Faktische akzeptiert, Interdependenzen erkennt und Komplexität nicht als persönliche Beleidigung betrachtet. Fiktion oder Fakten – das ist die Alternative. Und Greta Thunberg oder Kim Kardashian – das sind zwei der Symbole, zwischen denen wir uns entscheiden müssen. Was aber viele machen: Sie wählen Greta Kardashian. Weil es so nett ist. Und so unverbindlich.

Allerdings – und das ist die Hoffnung – deutet sich am Horizont ein zarter Kulturwandel an: Weg vom Role-Model des Oberflächen-Hipsters, der nur lässig mit Symbolen spielt, hin zu einer Gesellschaft, die Symbole wieder mit Inhalt füllt. Das wäre dann erwachsen, vernünftig und verantwortungsbewusst. So erwachsen, wie es eine Klimajugend ist, die den Älteren und Eltern zuruft: «Hört auf zu spielen, denn es ist Ernst». Übrigens: Es ist genau dieses Spielverbot, das manchem so sauer aufstösst, weil es in einer infantilisierten Gesellschaft natürlich eine herbe narzisstische Kränkung ist. Aber wer sagt denn, dass wir so eine dauergrinsende Gesellschaft überhaupt sein müssen? Niemand. Denn die Feststellung von Neil Postman, «Wir amüsieren uns zu Tode», gilt auch heute noch, obwohl man auch dieses Statement etwas pressieren müsste: «Wir amüsieren das Klima, die Umwelt, die Artenvielfalt, die Zukunft, die Armen zu Tode». Allerdings könnte man mit diesem traurigen Amüsement auch mal aufhören, so wie wir es vor kurzem für ein paar Tage gemacht haben. Schlimm wäre das nicht. Aber sinnvoll. Und erwachsen. 


PS: Noch ein kleiner Faktenservice zum Schluss. Und die Frage: Wenn wirklich der Schutz von Leben im Mittelpunkt stehen würde, sähen die folgenden Zahlen so aus, wie sie nun mal aussehen?