Think Popcorn

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Zwischen Steak und Symbolik: eine kurze Geschichte des Fleischkonsums

Eine Angst geht um unter den Karnivoren, denn klar: «Die Grünen wollen uns das Fleisch verbieten!» Das ist natürlich ein Skandal. Und ein grosses Missverständnis. Denn Ernährung war nie nur eine Frage des Geschmacks, sondern schon immer von Kultur und Politik geprägt. Kein Wunder also, dass der Zwist am Buffet so verbissen geführt wird. Weil es um Macht und Identität geht. Und um die grossen Fragen des Lebens.

Es ist schon lustig: Viele meinen, Essen hätte etwas mit Natur zu tun. Das ist nicht falsch. Aber auch nicht richtig. Denn kaum ein Phänomen ist kulturell so überformt wie unsere tägliche Ernährung. Darum ist der Glaube, Essen sei reine Geschmackssache, nur die halbe Wahrheit. Denn wenns um Geschmack geht, gehts nicht um die Zunge, Knospen und Papillen. Sondern um kulturelle Prägung, Sozialisation, Gesellschaft, Identität und, natürlich, um Politik. Insofern muss es nicht heissen: «Man ist, was man isst». Sondern: «Man isst, wer man ist.»

Der Teller als soziale Bühne

Die Erkenntnis, dass Essen nicht nur durch den Bauch geht, sondern durch die Birne, hat Rolando übrigens dem Roland (Nachname Barthes) zu verdanken. Dieser französische Meisterdenker interpretierte Essen als kulturelles Totalphänomen, das weit über die reine Nahrungsaufnahme hinausgeht. Das heisst: Essen ist ein Kommunikationssystem und damit Ausdruck sozialer und kultureller Bedeutung. So sieht Barthes Nahrung vor allem als Träger von Symbolik: Sie strukturiert Zeit (z. B. Mahlzeitenrituale), signalisiert Gruppenzugehörigkeit und drückt individuelle und kollektive Identitäten aus. Unser Teller ist somit die Bühne für ein grosses Theater.

Das darm-dramatische Stück, das oftmals in drei Akten dargeboten wird: eine opulente Inszenierung kultureller Praktiken, ein Spiegel gesellschaftlicher Strukturen, ein holistisches Gesamtkunstwerk mit tiefgehender Bedeutung – vom Einkaufen über das Kochen bis zum Konsum. Kein Wunder also, dass der Kampf zwischen Fleisch-Tigern und Brokkoli-Bären oftmals einen scharfen Beigeschmack hat: Weil er ein Kulturkampf ist. Und weil dieser Kulturkampf eine grosse Frage tangiert: Wie soll man gut und richtig leben?      

Warum auch Nelken und Bananen politisch sind

Was dabei erschreckend und faszinierend zugleich ist: Nicht erst seit der Erfindung der Gulaschkanone wurden die Kämpfe um Nahrungsmittel oftmals mit äusserster Brutalität geführt. Man denke allein an den Zucker: Für dieses nichtige Lebensmittel sind im 18. und 19. Jahrhundert über 11 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner verschleppt, missbraucht und versklavt worden. Für profanen, banalen und überflüssigen Zucker! Oder man denke an die kleine, unschuldige Muskatnuss: Für die haben die Niederländer im 16. Jahrhundert die „Gewürzinseln“ (die Molukken) erobert und fast die gesamte einheimische Bevölkerung getötet und vertrieben. Die Niederländer brauchten halt Platz für ihre Plantagen. So wie wir heute Platz für unser Rindsfilet brauchen. Die Aufzählung könnte man beliebig fortführen und käme immer wieder zum gleichen Schluss: Pfeffer, Zimt, Nelken, Bananen, Kakao und selbst Kartoffeln – alles hochpolitisch und alles Nahrungsmittel, welche die Weltgeschichte massgeblich geprägt haben.

Darum sollte keiner so tun, als wäre die Diskussion um Ernährung und Fleischkonsum irgendwie neu oder verquer. Das Gegenteil ist der Fall. Und wer glaubt, dass Ernährungsverbote eine Erfindung der Grünen seien, der muss dieser Partei göttergleiche Kräfte zuschreiben. Denn dass Hindus heilige Kühe haben und im Judentum und Islam Schweine nicht zum Verzehr erlaubt sind – das haben natürlich nicht Vishnu oder Allah verordnet, sondern Baerbock und Balthasar Glätti. Doch das tollste Gaunerstück haben die Ökos gemeinsam mit dem hochheiligen Erlöser initiiert (wahrscheinlich unter dem Apfelbaum): das christliche Fasten!  

In bester abendländischer Tradition: Ernährungsverbote

Dieses Fasten hat im Mittelalter einen grossen Teil des Jahres ausgemacht, nämlich bis zu 180 (!) Tage im Jahr, an denen der Verzehr von Fleisch, Milch und Eiern verboten war. Zu diesen Tagen zählten z. B.: die Fastenzeit vor Ostern, die Fastenzeit im Advent, der Mittwoch (ja, auch der), der Freitag, die vier jährlichen Quatember-Tage und die Vigilien.

Verbote, gerade die Fleischeslust betreffend, gab es also schon immer. Ebenso gab es schon immer kreative Wege, diese Verbote zu umgehen (damals gab es halt noch keine Grünen). Fleisch und Wurstwaren wurden etwa im Teigmantel versteckt oder zu feinen Pasteten verarbeitet. Zudem wurde Geflügel nicht dem Fleisch zugerechnet, weil es in Gottes Schöpfungsmythos nicht am selben Tag wie das Vieh erschaffen wurde. Doch den Vogel haben die Klöster abgeschossen, welchen den Interpretationsspielraum in ihrem Heisshunger weit ausdehnten: Manche Ordensbrüder züchteten Kaninchen, um deren Föten und Neugeborene zu verzehren – sie waren als Fastenspeise erlaubt.

Fazit: Essgewohnheiten und Fleischkonsum sind ein dampfender Eintopf, in dem alles verwurstet ist, was den Menschen auszeichnet: Genuss und Schuldgefühle, Exzess und Askese, Gesundheit und Vergnügen, Gemeinschaft und Abgrenzung, Kultur und Natur, Globalisierung und Lokalität, Vergangenheit und Zukunft, Leben und Tod.

 Ein echtes Totalphänomen eben. Aber ein sehr feines!

© Paul Reas, I Can Help, Hand Of Pork, Newport South Wales, 1988, Courtesy of James Hyman Gallery

Bonus-Track 1: fleischige Fakten

  • Fleischkonsum pro Kopf im Jahr (Deutschland): 51.6 Kilogramm

  • Geschlachtete Tiere pro Jahr (Deutschland): 750 Millionen

  • Fleischproduktion weltweit (in Tonnen Schlachtgewicht) 1990: 190 Mio.

  • Fleischproduktion weltweit (in Tonnen Schlachtgewicht) 2023: 370 Mio.

  • Ackerland für die Tierfutterproduktion (Schweiz und Deutschland): 60 % 

Die erstaunlichste Zahl allerdings:

  • Exporte von Schweinefleisch aus Deutschland: 1.500.000 Tonnen (Selbstversorgungsgrad 134%)

  • Import von Schweinefleisch nach Deutschland: 960.000 Tonnen

Grund hierfür: Deutsche (und Schweizer) präferieren Schnitzel, Filets, Koteletts, die importiert werden müssen, während Schweinefüsse und Innereien exportiert werden müssen. So viel zu Nose-to-Tail.

 

Bonus-Track 2: François Mitterrand und der süsse Ortolan

Dass Essen hochgradig symbolisch und eine Manifestation von Status sein kann – das wissen die Franzosen und ihr ehemaliger Präsident, François Mitterrand, natürlich bestens. Darum liess sich dieser François am 31. Dezember 95 auch eine spezielle Delikatesse servieren: Ortolane. Ortolane (auf deutsch Fettammer) sind kleine Singvögel, die wie folgt zubereitet werden (Trigger-Warnung: Vegetarier sollten diesen Abschnitt vielleicht überspringen): 

«Der Ortolan wird gefangen und im Dunkeln etwa 14 Tage lang gemästet. Die Dunkelheit verwirrt den Tag-und-Nacht-Rhythmus des Vogels, sodass er ständig frisst. Er erreicht dann etwa das Dreifache seines ursprünglichen Gewichts. Anschliessend wird er lebendig in Armagnac ertränkt und in einem speziellen Topf in Fett gegart. Zum Essen wird der Vogel komplett in den Mund genommen und samt Knochen zerkaut. Dabei stülpt sich der Esser eine Serviette über den Kopf. Zum einen soll die Serviette den Duft nah an Mund und Nase führen, zum anderen gilt es als manierlich, Tischnachbarn nicht mit dem Anblick und den entstehenden Geräuschen zu belästigen.»

François Mitterrand ist übrigens 8 Tage später gestorben.

© Richard Cottenier/MAXPPP