Momente der Wahrheit
Marketing – das ist nichts weiter als Brückenbau: zwischen dem, was die Menschen möchten. Und dem, was die Unternehmen bieten. Doch das mit dem Menschenverständnis scheint manchmal nicht so einfach zu sein – zum Beispiel in den Momenten der Wahrheit.
«Moments of truth» ist ein Begriff, den Jeff Carlzon ins Spiel gebracht hat – 1982, als Chef der skandinavischen Airline SAS. Was mit diesen speziellen Momenten gemeint ist: Für eine Marke zählen nicht so sehr die selbstproklamierten Identitätsbehauptungen – das nette Leitbild, das schöne Logo, die elegante Schnörkelschrift. Sondern die konkreten Identitätsbeweise. Mehr noch: Erst in den Wahrheitsmomenten wird eine Marke wirklich erschaffen. Zum Beispiel bei einer Airline: Die Marke SAS wird beim Einchecken am Boden erschaffen, beim Kaffeeservice in luftiger Höhe, oder – ein sehr entscheidender Moment – wenn der eigene Koffer nicht am Flughafen ankommt. Denn hier, am Gepäckband, kann SAS entweder zur Höchstform auflaufen oder eben das Gegenteil machen: gar nicht laufen und sowohl Kunden als auch Koffer im Regen stehen lassen.
Mehr emotionale Intelligenz, bitte.
Das Erstaunlich dabei ist: Dass die Momente der Wahrheit entscheidend sind, ist ziemlich einleuchtend, oder? Es ist vor allem dann einleuchtend, wenn man über ein bisschen Empathie und emotionale Intelligenz verfügt. Allerdings wird im Marketing emotionale Intelligenz gerne mit technokratischer Intelligenz verwechselt. Die Folge: Man kauft irgendwelche Tools ein und meint, mit virtuellen Empathie-Surrogaten nachhaltige Sympathien erzeugen zu können (mit blinkenden Emoticons in lustigen Chatbots, zum Beispiel).
Das knappe Gut «Mensch».
Maschinen statt Menschen – so hätten das Marketeers in diesen digitalisierten Zeiten gerne. Das ist aber der falsche Ansatz. Denn wenn Maschinen zunehmend den Menschen ersetzen, dann werden nicht die Maschinen wichtiger, sondern das rare und knappe Gut «Mensch». Dass das so ist, weiss jeder, der sich schon mal stundenlang durch User-Selfservices gekämpft hat. Irgendwann ruft man halt doch die Hotline an und in diesem «Moment of truth» entscheidet sich alles: Entweder ewige Liebe. Oder Groll, Hass und laute Fluchtiraden.
Nach dieser allgemein-philosophischen Sequenz nun zwei Zitate, eine Überlegung sowie eine Statistik (falls Sie noch mögen und die Lesebrille nicht schon lange beschlagen ist):
Von Apple bis zu Digitec – alle Tech-Giganten verdanken ihren Erfolg einer dezidierten Kundenorientierung. Diese Kundenorientierung haben sie zwar mit cleveren Algorithmen, Applikationen und digitalen Tools umgesetzt. Doch Tools sind immer nachgeordnet, denn was zuerst kommt, ist die Haltung. Oder, in Steve Jobs’ Worten: «You've gotta start with the customer experience and work backwards to the technology.» Und in Jeff Bezos’ Worten: «Die Nummer eins der Gründe, die uns mit Abstand erfolgreich gemacht haben, ist der zwanghafte Fokus auf den Kunden.»
Die Digitalisierung macht Marken genau dort intangibler, wo früher die fassbare Interaktion zwischen Unternehmen und Menschen stand: Bei Anmeldeprozessen, bei der Unterstützung von Kaufentscheiden, bei der Problemlösung. Dass Unternehmen diese Interaktionen digitalisieren, mag aus ihrer Sicht zwar Sinn machen – Stichwort Externalisierung von internen Aufwänden. Allerdings gibt es nun mal den Punkt, an dem der Kunde bei Ihnen auf der Matte steht – und wer in diesen Wahrheitsmomenten nicht performt, der hat verloren. Denn Obacht: Irgendwann haben Sie nicht nur Prozesse externalisiert, sondern den ganzen Kunden. Und das rächt sich, garantiert.
Und zum Schluss noch eine Statistik: Wissen Sie, warum Kunden aufhören, Kunden zu sein? Nicht, weil ein Angebot anderswo billiger ist; nicht, weil ein Produkt schlecht ist. Sondern weil 68 Prozent der Kunden den Eindruck haben, dass sie dem betreffenden Unternehmen schlichtweg egal sind. Ein Umstand, der wie eine Ohrfeige klingt, und der zeigt, dass so etwas Basales wie Wertschätzung wichtiger ist als fancy Marketingautomatisierungen.
NZZ, Zurich und ein Sessel
So, nun noch einige persönliche Wahrheitsmomente aus den letzten sieben Tagen: Diese Zeilen haben Sie nämlich der NZZ zu verdanken (bzw. ihrem grottenschlechten Leserdienst). Und der Zurich Versicherung (und ihrem Rückrufservice, bei dem nie jemand zurückruft). Und meinem neuen Sessel.
Den wollte ich ursprünglich in einem traditionellen Möbelfachgeschäft kaufen, doch leider waren diese Designläden seltsam träge und muffig. Darum kommt mein neuer Edelhocker nun vom Onlinemöbelhändler Mooris, denn der beherrscht nicht nur Bits und Bytes, sondern versteht sich auch auf Herz und Seele. Und genau so muss es sein: Erst ein bisschen Maschine. Und dann ganz viel Mensch (… und nachher eine hohe Rechnung, weil der Sessel immer grösser, die Wunschliste immer länger wurde und die Kauflaune immer besser wurde).