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Schweizer machen

Diesmal etwas Freestyle. Oder ein bisschen therapeutisches Schreiben. Oder das kurze Aufmucken eines geübten Ausländers. Denn in den folgenden Zeilen geht’s ums Schweizermachen. Und um Identitätspolitik. 

Martin Parr, Kleine Scheidegg, aus der Serie “Small World”, 1987-1994.

Der Anlass dieser Zeilen ist eine TV-Serie. Die heisst «Schweizer machen» und lief auf SRF. Jetzt könnte man denken, dass es bei besagten Filmen um Menschen geht. Ist aber nicht so, denn «Schweizer machen» sind eigentlich Tierfilme. 

«Schweizer machen» wirkt wie eine Tierdoku, bei der chipsknabbernde Fernsehzuschauer der Abrichtung fremder Wesen beiwohnen dürfen. Dabei werden zwar keine Tiger vorgeführt, dafür aber Tamilen. Und die Zweibeiner werden auch nicht in der freien Wildbahn gezeigt, sondern bei der Kleintierdressur im Schweizer Nationalzirkus. Das Ziel der Abrichtung: Die Fremdländer sollen kleine Wissenskunststücke vollführen und brav über Fragestöckchen springen – vieles davon auf Pennälerniveau, öfters diskriminierend und manches mit einer übergriffigen Note. Sitz, Platz, gib Pfötchen: So kann einem die gezeigte Akkulturations-Abrichtung vorkommen. Und ja, ich bin sauer! Darum erst mal eine kleine Geschichte. Das soll ja die Nerven beruhigen, und lehrreich sind kurze Analogien bekanntlich auch. 

Man wird, was einen umgibt 

Stellen Sie sie sich vor, Sie fahren nach Italien, was passiert dann mit Ihnen? Was passiert, wenn Sie den Koffer packen? Wenn Sie den Gotthard passieren und plötzlich die warme Sonne spüren? Wenn Sie am Strand ankommen, den ersten Hugo trinken und das sanfte Schaukeln der Schiffe beobachten? Ganz einfach: Sie werden Italiener – ein ganz klein bisschen zuerst. Und dann – mit jeder Stunde, jedem Tag, jeder Woche – ein bisschen mehr. Denn Unterwegssein ist Transformation, ist eine sanfte Aneignung des Anderen, ist eine Entdeckungsreise zu etwas Neuen in Ihnen. Doch was ist, wenn aus den paar Tagen ein paar Monate, eine paar Jahre oder gar Jahrzehnte werden? Wie viel Schweiz ist dann noch in Ihnen? Und wie viel Italien? Eben, die genaue Antwort weiss keiner. Aber die ungenaue Antwort, die weiss jeder: Man wird, was einen umgibt – egal ob in Italien, in der Schweiz oder im Taka-Tuka-Land.

Othering als nationales Prinzip

Man wird, was einen umgibt – das ist zwar so, das wird aber so nicht anerkannt. Denn wenn dem nicht so wäre, wenn Identitäten nicht durchlässig, anschlussfähig und multipel wären, was würde dann passieren? Ganz einfach: Man würde als Fremder unweigerlich scheitern: beim Zusammenleben, auf der Arbeit, in der Kommunikation, im ganz banalen Alltag. Doch dieses Konzept der durchlässigen Identität scheint irgendwann im völkischen Behördenschredder entsorgt worden zu sein – mit dem Aufkommen des Nationalstaats, mit einem gezielten Othering und im schlimmsten Fall mit Segregation. 

Ein gezieltes Othering des Nichtschweizers und ein eigenartiges Identitätskonzept zeigen sich auch im Tanz ums rote Kalb. Warum das so ist? Ich habe da einen Verdacht, und der geht so: 

Die Verfestigung des Fluiden

Man kann sich Identität als etwas Fluides, Veränderliches, Offenes vorstellen. Das wäre ein zeitgemässes kulturelles Verständnis, das jeder teilt, der schon mal die Wohnung, den Beruf, die Freundin, die Stadt oder seine Unterwäsche gewechselt hat. Man kann sich Identität aber auch als etwas Statisches imaginieren – wie eine Burg, mit hohem Wall und festen Grenzen. Das Komische dabei ist: Jedes moderne Individuum wird das fluide Modell für seine persönliche Identität in Anspruch nehmen. Doch sobald die nationale Identität ins Spiel kommt, wird aus fluid fix und aus variabel starr. Das ist ein Problem. 

Praxis der sozialen Demütigung

Das Problem ist, dass Länder – diese «imagined communities», diese grossen Narrative mit ihren mühsam zusammengeschusterten Identitätskonstruktionen – natürlich eine fluide Identität haben, dieses aber nicht gern zugeben. Das gilt für viele Länder. Das gilt aber besonders für die Schweiz. Das Komische dabei: Das Differenzierungsmerkmal der Schweiz ist ihre Diversität, ihre Offenheit, ihre Vielfältigkeit. Aber im Einbürgerungsprozess scheint die Eidgenossenschaft die Grösse ihrer Diversität mit einer Kleinheit ihrer Fragen fast schon negieren zu wollen. Das hat konkrete Konsequenzen. Die erste Konsequenz: In der Schweiz verfügt ein Viertel der Bevölkerung nicht über das Bürgerrecht – das sind 2 175 000 Menschen. Und die zweite: Die Schweiz hat eine der tiefsten Einbürgerungsquoten in ganz Europa. Warum das so ist, zeigt «Schweizer machen» von SRF: Es ist die soziale Demütigung, die dem Schweizer Einbürgerungsverfahren innewohnt.  

Ingroup, Outgroup und Gruppenkohäsion

Das Demütigende am Einbürgerungsprozess ist, dass hier Ausländer für ein eigenartiges Spiel mit Grenzen missbraucht werden. In diesem sorgsam inszenierten Spiel geht es um Abgrenzungen und Ausgrenzungen. Doch vor allem geht es um Eingrenzungen: Um die Eingrenzung der Schweiz in ihr eigenes kollektives Gedächtnis. Das Volkstheater der Einbürgerung ist also nicht für Ausländer gemacht, sondern für die Inländer – angelegt als grosses Selbstgespräch und als ständiges Reenactment der eigenen Identität. Darum sind in diesem Volkstheater die Möglichkeitsschweizer auch nur die Statisten. Statisten, die als Fremdländer die Outgroup spielen, damit die hiesige Ingroup ihre Gruppenkohäsion stabilisieren und die eigenen sozialen Mythen reinszenieren kann. Anders formuliert: Das Ganze wirkt irgendwie wie die Wiederaufnahme der geistigen Landesverteidigung, diesmal im wohlklimatisierten Gemeindesaal. Allerdings frage ich mich: Was genau ist das Geistige, das hier verteidigt werden soll? Und wer hier ist der Feind? 

Es gibt keine Feinde. Es gibt keine Bedrohung. Und doch erfüllt der Einbürgerungsprozess einen bestimmen Zweck: Er dient der Überhöhung des Minimalkonsenses. Dass es diesen Minimalkonsens braucht, ist keine Frage. Dass es ihn schon längst gibt, aber auch nicht.

Der erfolgreichste Schweizer Film aller Zeiten

Doch als vorgestellte Gemeinschaften basieren Ländern nicht auf dem Faktischen, sondern auf dem Fiktiven. Darum ist es mit den Ausländern so wie mit den Tieren: Erst die Betrachtung des Tieres macht den Menschen so richtig zum Menschen. Und erst der Ausländer ermöglicht es dem Inländer, das Eigene so richtig spüren. Da fällt mir doch ein: Wissen Sie, was der erfolgreichste Schweizer Film aller Zeit ist? Das ist «Die Schweizermacher» von 1978. Warum eigentlich?