Do the Roger

Zuckersüss, herzerwärmend und sehr erfolgreich – das, was der Roger mit den beiden italienischen Tenniskids gemacht hat. Und sehr aufschlussreich, wenn man ein bisschen näher hinschaut. Denn Roger Federer zeigt, um was es geht: um Identität. Und um Identitätsbewirtschaftung. 

Ein bisschen Identität – ja, das hätten wir alle gerne. Und zwar eine richtige, also eine mit Ecken und Kanten. Das war natürlich immer so und Identität gibt es, seitdem es Menschen gibt. Allerdings, und das ist neu: Heute ist die liebe Identität singulär geworden. 

Was heute zählt, ist nicht mehr das, was früher wichtig war – die kollektive Identität nämlich. Denn Identitäten müssen dieser Tage hochgradig individuell sein. So ist die amerikanische Maxime aus den 50er-Jahren «Keep up with the Joneses» – dieses sich Einpendeln in der Nachbarschaft, im Durchschnitt, in der Masse – heute fast ein soziales Tabu und hat deutlich an Sex-Appeal verloren. 


Don’t keep up with the Joneses

Auf den ersten Blick mag diese Entwicklung vielleicht banal erscheinen, ist sie aber nicht. Das merken wir schon, wenn wir unser Leben mit dem unserer Eltern bzw. Grosseltern vergleichen. Denn normierte Beziehungen (Heirat und klare Rollenverteilung), normierte Lebensläufe (Schule, Beruf, Rente), normierte Ferien (Urlaub am Teutonengrill an der Adria) und normiertes Essen, Freizeitverhalten und wahrscheinlich auch normierter Sex – mit diesen sozialen Skripten von damals können wir uns heute gar nicht mehr anfreunden. Darum gehen auch zwei Wochen Vollpension in Rimini nicht mehr. Da muss es schon ein bisschen Trekken im Hindukusch oder ein Death-Metal-Yoga-Retreat in Goa sein (ja, sowas gibt’s). 

Individuelle Identität ist also das, was heute zählt. Und «zählt» ist durchaus monetär gemeint. Das sieht man bei jedem Einzelnen von uns (schliesslich ist in einer ökonomisierten Gesellschaft auch das zutiefst Persönliche ein Wettbewerbsfaktor). Das sieht man aber auch bei Marken. So haben Joseph Peine und James Gilmore in ihrem Buch «Authenticity» darauf hingewiesen, dass Identität und Authentizität zu einem geldwerten Gut geworden sind. Denn klar: In einer Welt, in der sich die Produkte immer mehr gleichen, sind nicht mehr die primären Produktmerkmale kaufentscheidend – die Verfügbarkeit, der Preis, die Qualität. Sondern die Geschichten hinter dem Produkt. Und diese Geschichten – die vielen kleinen Storys, die verschiedenen Ereignisse, die unterschiedlichen Merkmale – sind in ihrer Gesamtheit das, was Identität ausmacht. Identität ist daher immer ein vielfältiges Bündel, wobei «vielfältig» das entscheidende Stichwort ist, weil hierzu auch Widersprüche, Widerstände und Wendungen gehören – Lebendigkeit eben. Diese Lebendigkeit haben sehr viele Menschen. Aber sehr wenige Marken. Auf der einen Seite ist das natürlich doof, denn ohne Identität gibt’s auch keine Identifikation. Doch auf der anderen Seite ist das eigentlich nicht weiter schlimm. Denn was man nicht hat, kann man ja kaufen. 

 Identitätswirte: Lebensstifter für Marken

Identität kaufen: Das hat man früher mit Testimonials gemacht und macht man heute mit Influencern. Denn all diese eingekauften Persönlichkeiten haben etwas, was Produkte nicht haben: Sie haben eine Seele. Darum bietet es sich für leblose Produkthersteller geradezu an, auf lebendige Identitätsträger zu setzen. Die kann man dann Markenbotschafter nennen. Oder Identitätswirte. Oder Leihmütter.

Identitätswirte, das sind z. B. Roger Federer und George Clooney. Oder Kim Kardashian und Rezo. Oder die zehntausend Micro-Influencer in den grossen Weiten der sozialen Netzwerke. Diese Identitätswirte haben eigentlich nur eine, vermeintlich leichte Aufgabe: Sie müssen lebendig sein (und natürlich authentisch). Diese Lebendigkeit stellen sie dann Marken zur Verfügung. So gesehen erfüllen sie eine ähnliche Funktion wie Leihmütter – als Lebendigkeitsstifter, nicht für Babys, sondern für Brands. 

Dr. Dre: Vom Clubhouse zur Company

Aber (und jetzt wird’s interessant) es gibt noch eine andere Möglichkeit, seine Lebendigkeit zu vermarkten, gerade in diesen digitalisierten Zeiten. Denn so wie Leihmütter ihre Lebendigkeit auch für sich selber nutzen können, so eröffnen sich auch in der Identitätsbewirtschaftung neue Wege. Welche das sind, hat Roger Federer gezeigt – nicht mit dem Barilla-Spot, sondern mit seiner Beteiligung beim Turnschuhhersteller On. Oder Kanye West mit dem Sneaker-Brand Yeezy. Oder, noch konsequenter, Dr. Dre mit der Kopfhörermarke Beats. Denn sie allen haben ihre Identität nicht mehr als Temporärbotschafter vermietet, sondern für sich selber als Unternehmer genutzt. Angelehnt an Pierre Bourdieu kann man demnach feststellen: Sie haben aus ihrem kulturellen Kapital finanzielles Kapital gemacht. 

Welche Summen dabei auf dem Spiel stehen, zeigt das Beispiel Dr. Dre: 3 Milliarden US-Dollar. So viel hat Apple für die Street-Credibility eines Gangsta-Rappers bezahlt, der ein selbstdeklarierter «Nigga Wit Attitude» ist. «Attitude» ist demnach ein geldwertes Gut und lässt sich gewinnbringend bewirtschaften (darum schwärmen aktuell auch so viele Unternehmen vom Purpose, dieser kleinen Schwester einer handlungsleitenden «Attitude»). 

Long-Tail-Economics für alle

Das Schöne an der neuen Identitätswirtschaft ist dabei: In Zukunft ist sie für alle möglich – für Sie und für mich. Aber auch für Greenpeace, die örtliche Kita, den lokalen Feuerwehrverein oder für Ihre Lieblingspartei. Denn was es für eine Identitätswirtschaft 2.0 braucht, ist nicht viel. Zum einen digitale Schnittstellen. Und zum anderen ein kleiner Paradigmenwechsel in der Markenführung. Denn Markenführung, besonders für High-Involvement-Produkte, werden vornehmlich nicht mehr die Hersteller machen, sondern starke Identitätsträger. Oder wie es der Trendforscher Sven Gábor Jánszky beschreibt: Unternehmen werden starken Identitätsträgern ihre Produkte vermehrt als White-Label-Lösung zur Verfügung stellen, die dann von Identitätswirten eigenständig promotet und sogar vertrieben werden. 

Manche werden jetzt sagen, dass es das alles ja schon gibt (z. B. dank Affiliate-Plattformen für Influencer). Stimmt, aber Plattformen wie Awin sind erst der Anfang. Denn die Fraktalisierung von Zielgruppen wird weitergehen und starke Identitätsträger werden als Gatekeeper an Wichtigkeit gewinnen. Das könnte in der Konsequenz dann so aussehen:  

  • Das NGO, das für globale Gerechtigkeit kämpft, wird Fair Fashion im Onlineshop verkaufen (und zwar im grossen Stil). Das wäre viel sinnvoller und zielführender als die immer gleichen Bettelbriefe in unseren Briefkästen. 

  •  Die Kita «Zaubermaus» wird Erziehungsbücher und Bio-Babybrei aus der Nachbarschaft anbieten. Damit stärkt sie sowohl ihre Positionierung als auch ihr Budget. 

  • Und ich werde Ihnen die Klaviersonaten von Beethoven, gespielt von Igor Levit, empfehlen. Zudem die Rasierklingen Hydro 5 von Wilkinson (die sind nämlich viel besser als die von Gillette). Dann noch das Buch «Gesellschaft der Singularitäten» von Andreas Reckwitz. Und die Hirsch-Wurst von der Wilden 13, zu beziehen u.a. bei Berg und Tal. 

Das wirklich Gute aber ist: Identität ist fast immer kulturelle Identität. Und diese kulturelle Identität kann dank der Digitalisierung in eine neue Form des kulturellen Unternehmertums überführt werden – mit mehr Power, mehr Relevanz, mehr Durchschlagskraft. Eine gute Nachricht, finde ich. 

Bonusprogramm:
Wie Dr. Dre auf den Apple-Deal reagiert hat, zeigt folgender Spot. Und welche Business-Philosophie Dr. Dre und Jimmy Ivoine vertreten (und mit welcher “Attitude”) zeigt der Spot noch eine Etage weiter unten.


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