Same same but different: Individualität als Marketing-Mythos
Einzigartig und speziell: So müssen Restaurants, Hotels und Kleidermarke heute sein. Und so – very unique und unverwechselbar – muss auch das sein, was in diesen Kleidermarken steckt: Jeder und jede. Das Lustige dabei: Individualität ist längst der neue Standard und Einzigartigkeit ist zum Massenmythos verkommen. Das wusste übrigens schon der heilige Messias, wie folgende Episode aus «Das Leben des Brian» zeigt.
Die Lehre, die uns Monty Python und Christus hier um die Ohren hauen: Wir sind einzigartig, individuell, und ganz besonders. Also genau das, was alle anderen auch sind. Das klingt komisch und paradox. Und doch macht diese serielle Individualität durchaus Sinn. Vielleicht nicht semantisch, aber ökonomisch. Das lässt sich schon an der Entwicklung des Individualitätsbegriffs ablesen.
Der moderne Begriff der «Individualität» entwickelte sich während der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Zwar gab es schon vorher Konzepte des Individuums in philosophischen und religiösen Kontexten. Aber die Vorstellung von Individualität, die auf der Einzigartigkeit und Autonomie des einzelnen Menschen beruht, entstand erst in Zeiten von Immanuel Kant, John Locke und Jean-Jacques Rousseau. Allerdings bezog sich Individualität damals nicht auf den Menschen, sondern auf die Menschen. Verkürzt gesagt: Die Individualität der Aufklärung bezog sich auf das kollektive Wir und nicht auf das singuläre Ich. Nur so konnte sie zu einem gesellschaftlichen Kampfbegriff werden, der die Vernunft des Einzelnen in Kontrast zu überkommenden Traditionen und herrschenden Autoritäten setzte.
Vom «sapere aude» zum «sapere shoppe»
Was im Siècle des Lumières im Mittelpunkt stand: Das eigenständige Denken und der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Und heute? Heute ist das eigenständige Denken dem eigenständigen Kaufen gewichen. So heisst der kategorische Imperativ dieser Tage nicht mehr «sapere aude», sondern «sapare shoppe». Individuelle Freiheit wird daher nicht mehr über den Intellekt, sondern durch das Portemonnaie gelebt – klar, wir leben ja in neoliberalen Zeiten.
Kein Wunder also, dass der Einzelhandel das bevorzugte Schlachtfeld ist, um als Einzelner seine Einzigartigkeit auszuleben. Ist ja auch sehr bequem – so eine Individualität von der Stange und in fünf verschiedenen Grössen. Allerdings würden die wenigsten von uns das gerne zugeben, worüber Einzelhändler sehr glücklich sind. Schliesslich es ist diese Naivität der Konsumentinnen und Konsumenten, die sich hervorragend bewirtschaften lässt.
Individualität als neoliberales Narrativ
Dabei muss man sich im Klaren sein: Auf ökonomischer Ebene geht der Trend zur Individualisierung mit einer zunehmenden Ausdifferenzierung von Märkten einher. Dass es dabei aber vor allem um Konsum geht, wird gerne sublimierend verschwiegen – nicht von den Verkäufern, sondern von den Käufern. Denn diese verbinden «Individualität» und (schlimmer noch) «Authentizität» noch immer mit emotionalen Konzepten, die auf den romantischen Idealwelten eines Goethe, Schlegel und Novalis basieren.
Denn Individualität – das verspricht nach wie vor emotionale Tiefe und das Einzigartige ist natürlich Ausdruck der eigenen singulären Subjektivität. Doch während sich die lieben Konsumenten noch als kleine «Originalgenies» feiern, reiben wir Marketeers uns schon fleissig die Hände. Denn wir wissen: Individualität ist kein Gefühl, sondern ein Kaufakt. Und wer heute voller Inbrunst seine Individualität unterstreicht, der unterstreicht damit vor allem seine Identität als neoliberales Individuum.
Was kommt zuerst: Die Inszenierung oder die Identität?
Der entscheidende Begriff ist hier übrigens «voller Inbrunst». Denn man kann es so machen (Achtung, jetzt wird’s richtig klischiert), wie es die Italiener und Franzosen machen: Man feiert seine Identität als Inszenierung – lustvoll, humorvoll, spielerisch. Oder kann es machen, wie es die Teutonen und artverwandte Völker machen: Nämlich genau umgekehrt.
Der Unterschied: Bei den Teutonen ist Inszenierung ein Vorwurf, während es bei den Franzosen eine Leistung ist. So hat in germanischen Wäldern das echte Sein eindeutig Priorität und während dem glitzernden Schein etwas Anrüchiges und Vulgäres anhaftet. Bei den katholischen Südländern ist das anders. Darum konnte auch nur ein Italiener die «Göttliche Komödie» schreiben, während es die Deutschen mehr mit Heidegger halten und lieber über die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendes rauen.
Für welche der beiden Varianten mein Herz schlägt, ist klar. Schliesslich bin ich nicht nur ein Südamerikaner light, sondern auch überzeugter Werber. Darum: Inszenierung als identitätsbildende Leistung – das finde ich sympathisch, weil so nun mal das Marketing und das postmoderne Leben funktionieren. Das sagt übrigens auch Jean Baudrillard (ein Franzose, natürlich), dessen Beschreibung von Hyperrealität und Simulacra gerade in Social-Medialen-Zeiten sehr aktuell ist.
Wobei mir einfällt: Von diesem Baudrillard gibt es auch T-Shirts. Die gehe ich mir jetzt kaufen – im Dreierpack und aus Biobaumwolle selbstverständlich.
Bonus-Track: Individualität serienmässig – diese Anbieter zeigen, wie es geht
Outfittery: Ein personalisierter Styling-Service, der kuratiertes Mode-Shopping im Internet populär gemacht hat. Ursprünglich nur für Männer und mitverantwortlich dafür, dass moderne Performer heute nur noch weisse Sneaker tragen – Individualität serienmässig halt.
Sézane: Eine französische Mode- und Lifestyle-Marke, die auf eine Direct-to-Consumer (D2C)-Strategie setzt und zeigt, wie kohärentes Brand-Storytelling heute funktioniert – mit Community-Bildung, regelmässigen Charity-Kampagnen, limitierten Kollektionen und glaubhaften Nachhaltigkeitsversprechen.
Ofr.Paris: Ein unabhängiger Concept Store mit einer bunten Mischung aus Büchern, Kunst, Mode und kulturellen Events, der sich als absoluter Hot-Spot für die globale Hipster-Elite etabliert hat. Zudem ein überzeugendes Beispiel für ein kulturell definiertes Marketing, das zielsicher zwischen Identität und Inszenierung oszilliert (etwas, was ürbrigens jeder Power-Brand macht bzw. machen sollte).
Kreuzfahrtschiffe: Sie verkaufen den Traum von Freiheit, Luxus und einzigartigen Erlebnissen, sind aber gleichzeitig extrem durchgeplant und homogenisiert – die zehntägigen Reisen auf den schwimmenden Hotelburgen. Das Paradoxe dabei: Während aus der Innenperspektive vieles individuell wirkt – die Kabine, die verschiedenen Restaurants, die unverwechselbaren Bord-Events – wirken Kreuzfahrtschiffe von aussen wie massentauglich kuratierte Erfahrungsangebote. Der Trick dabei: Alle fühlen sich individuell, weil alle das Gleiche erleben. Komisch, das Ganze. Und irgendwie sehr modern.
DNA2art.com: Die Krönung der seriellen Individualität? Die Plattform DNA2art.com, auf der man sein eigenes Genom als Kunstwerk darstellen lassen kann. Was es dafür braucht: Ein bisschen Speichel und keinen Geschmack.
Über Exactitudes®:
Exactitudes ist ein foto-anthropologisches Projekt von Ari Versluis und Ellie. Der Ansatz des Fotografenduos aus Rotterdam: Sie lichten Menschen ab, die sich bezüglich Kleidung, Haltung und Attributen gleichen und lassen so unbewusste (?) Selbsttypologisierungen erkennen. Exactitudes wurde 1994 lanciert und setzt sich aus den Wörtern «exact» und «atti-tude» zusammen.