Sinn, Irrsinn und der liebe Purpose

Das muss man sich mal vorstellen: Da sitzen Menschen in feuchten Lehmhäusern ­– sie können nicht lesen, nicht schreiben, essen jeden Tag schleimigen Getreidebrei und ihre Kinder sterben weg wie die Fliegen – und was machen diese Menschen? Sie bauen Kirchen. 

 
 


Für jeden Utilitaristen absolut unverständlich: Die Menschen bauen Kirchen, anstatt sich um die Kanalisation zu kümmern. Sie investieren in Bilder, anstatt für Bildung zu sorgen, sie beissen inbrünstig in brüchige Oblaten, anstatt gutes Brot zu backen. So haben sich die Menschen allein im Köln des Jahres 1180 mehr als 200 Gotteshäuser gegönnt – und das bei einer Einwohnerzahl, die der von Kriens entsprach (25'000). Damit haben sie einen immensen Aufwand betrieben, der was war? Ein absoluter Verhältnisblödsinn? Eine unbegreifliche Ressourcenverschwendung? Der reine Irrsinn gar? Als klassischer Ökonom, der vom rationalen, eigennützig handelnden Individuum ausgeht, kann man eigentlich nur letzteres konstatieren. Doch Ökonomie ist das Eine und das Leben ist das Andere. Und hier, im prallen und echten Leben zeigt sich: Wer Menschen nur als zweckrationale Wesen begreift, hat leider nur die Hälfte begriffen. Womit wir beim Thema Purpose wären. 

«Warum?», «Warum?», «Warum?»

Purpose – darüber reden jetzt viele. Klingt ja auch chic, dieses neue Wort, und hilft der Wirtschaft etwas wiederzuentdecken, das die Menschen (ausser vielleicht die Ökonomen) schon immer geprägt hat: Der Hunger nach Sinn, der Durst nach Visionen und somit der Wunsch nach kohärenten Narrativen. Jetzt hätte es für diese bahnbrechende Erkenntnis eigentlich keinen Simon Sinek gebraucht, etwas Maslow, Barthes und Edgar Schein hätten es auch getan. Oder ein Blick auf unsere Kinder. Denn wenn die süssen Kleinen «Warum?», «Warum?», «Warum?» fragen, dann kann man das als kindliche Dummheit abtun. Oder man kann von einer anthropologische Grundkonstante ausgehen, die auch uns Grosse auszeichnet – die Frage nach dem Sinn nämlich.  

Die Sucht nach kohärenten Narrativen

Das eigentlich Interessante dabei ist: Unsere Sinnsuche ist nicht so ätherisch, abgehoben und ethisch nobel, wie manche meinen. Denn die Suche nach Sinn ist vor allem eine Suche nach Kohärenz und stringenten Narrativen. Anders formuliert: Um die Welt zu verstehen, müssen wir armen Erdenbürger das Oben und das Unten, das Grosse und das Kleine, den Himmel und den nackten Boden zu einem erzählerischen Ganzen machen. Dieses Bedürfnis zeigt sich bei den grossen Welterklärungsnarrativen von Religion und Kultur. Aber es zeigt sich auch im ganz Kleinen und Banalen. Denn selbst auf die Frage, warum die Heidi Klum den Tom Klaulitz liebt und weshalb es immer dann regnet, wenn ich gerade draussen bin – irgendwie finden wir immer eine Erklärung und unsere Gier nach Sinn hat uns zu wahren Deutungsmonstern werden lassen. 

Wir Teppichknüpfer

Dabei gehen wir vor wie orientalische Teppichknüpfer: Aus den losen Fäden der Erscheinungen machen wir zusammenhängende Teppiche voller Bedeutungen. Dass diese Verknüpfungen manchmal ziemlich willkürlich und frei von jedweder Logik sind, scheint uns dabei nicht gross zu stören (sonst gäbs ja keine Religionen, komische Welterklärungsmuster und merkwürdige amerikanische Präsidenten). Was aber essentiell ist: Wir brauchen diese bunten Flickenteppiche, um singuläre Ereignisse vermeintlich sinnhaft und kausal zu miteinander verknüpfen. Und wir benötigen fast schon zwanghaft ein ordnendes System, um das Disparate in ein einheitliches Muster zu weben. So ist der Vorteil von Visionen und Narrative ziemlich profan: Es geht um Orientierung und um Komplexitätsreduktion. Oder, angelehnt an Niklas Luhmann: Visionen sind vor allem Kontingenzbewältigungsstrategien, die dazu dienen, unendliche Informationen ins Endliche zu überführen. (Huch, das ist jetzt aber ein weiser Satz.)


“Vision without execution is just hallucination”
Thomas Edison 

So gesehen haben Gott und Marken dieselbe Funktion: Sie entlasten uns. Und was früher die Kirche gemacht hat, macht heute der Konsum: Er hilft uns, uns in der Welt zu situieren und dem scheinbar Sinnfreien einen Sinn zu geben. Wobei hier klar festgestellt werden soll: Haben und Sein waren niemals ein Gegensatz und wer glaubt, dass erst in unseren postmateriellen Zeiten mit Werten Mehrwert geniert werden kann, der irrt und zwar gewaltig. Denn die Organisation, die in den letzten Jahrhunderten die grössten Reichtümer, die grösste Marktdurchdringung und die meistens Kunden für sich gewinnen konnte – das ist die Kirche. 

Eine Kirche, die etwas verstanden hat, was viele Mission-Vision- und Purpose-Apologeten nicht ganz verstehen: Den Nexus von Vision und Aktion. Und die zwingende Verknüpfung von Meta- und Handlungsebene. So wird eine Vision erst dann zu einer erfolgreichen Vision, wenn zusammenkommt, was zusammengehört: Die grosse Botschaft. Und die Rituale, Symbole und Serviceangebote, die diese Botschaft konkret erlebbar und – ja, auch das – monetarisierbar machen. Wie man diesen Zusammenhang aufbaut, wird im nächsten Blogbeitrag thematisiert, doch soviel sei jetzt schon mal verraten: Es funktioniert mit dem Baron’schen Weihnachtsbaum.


«85% aller Unternehmen, die von Werten getrieben werden, wachsen. Bei den nichtwertgetriebenen Unternehmen sind es lediglich 42%.»

Roland Berger






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