Identitäre Bewegungen
Eigentlich sind sie ja nur grosse Warenlager – die Zalandos dieser Welt. Doch selbst Warenlieferanten treten dieser Tage als Wertelieferanten auf. Das kann man infam finden. Oder absolut richtig. Denn was die Gesellschaft vermehrt macht, machen dieser Tage auch Marken: Identitätspolitik.
Bei mir liegt jeden Abend eine alte Tante auf dem Sofa. Die heisst NZZ und ist ein liberal-konservatives Medium. Auf ihren intellektuellen Konservativismus ist meine Tante zwar ziemlich stolz, doch gibt es ein Battlefield, das sie sehr leidenschaftlich mit dem linksintellektuellen Milieu teilt: die Identitätspolitik.
Identität als Inszenierung
88 Artikel zur «Identitätspolitik» in den letzten 12 Monaten – schon beachtlich, diese Zahl. Und ein klares Indiz dafür, dass Identität ein wichtiges Thema ist, sowohl in den Redaktionsstuben weltweit als auch in der Gesellschaft. Auf der einen Seite ist diese Identitätsfokussierung nur verständlich, denn was Frauen, Schwarzen, Juden, Homosexuellen etc. pp. angetan wurde, ist eine ausgemachte Schande. Doch auf der anderen Seite stellt sich die Frage: Woher kommt diese hitzige Identitätsdebatte und warum ist die Fixierung auf vermeintliche Entitäten plötzlich so wichtig geworden? Die mögliche Antwort in drei kurzen Sätzen:
Weil es Identität immer weniger gibt – vermeintlich natürlich und gottgegeben.
Weil Identität darum immer mehr gemacht werden muss – kulturell und künstlich.
Und weil wir in einer Marken- und Marketing-Gesellschaft leben.
Identität behaupten, um Werte zu bewirtschaften
Identitätsdebatten als Marketing-Phänomen? Manche mögen hier leer schlucken, weil sie meinen, «Identität» habe es etwas Weihevolles und Sakrales an sich. Doch genau das ist ja der Marketing-Trick: Identitäten wird etwas zugeschrieben, was sie von sich aus nicht haben – einen Wert nämlich. Der Vorteil dieser Zuschreibung ist klar: Werte lassen sich bewirtschaften, sehr erfolgreich sogar. Diese Wertebewirtschaftung zeigt sich in der politisch-medialen Debatte, sie zeigt sich aber auch aktuell bei Zalando, H&M und Nestlé.
Der kleine Unterschied allerdings: Während man bei Unternehmen von Interessen ausgeht, wird bei gesellschaftlichen Diskussionen oft so getan, als wären Identitätsdebatten von einer grossen Selbstlosigkeit getragen. Das stimmt aber leider nicht, wie der Blick auf nahezu jede identitätspolitische Debatte der Vergangenheit zeigt – z. B. auf Kolonialismus, Nationalismus, Tribalismus oder Religionismus. Diese Debatten (ein Wort, das in diesem Zusammenhang stark verharmlosend klingt) wären bestimmt anders verlaufen, wenn von Interessen anstatt von Werten, von Interessensgruppen statt von kollektiven Entitäten geredet worden wäre – ehrlicher und weniger menschenverachtend. Das gilt übrigens auch in diesen Tagen.
Notwendige Lügen
Die spannende Frage ist allerdings, was mit Identität genau gemeint ist: etwas Starres und Fixes – also das, was die Deutschtümeler den Deutschen, die Proud Boys den weissen Amerikanern und manche politisch Oberkorrekten ihren Freunden und Feinden andichten möchten? Oder ist Identität etwas Fluides und Modales? Also etwas, das Karl Popper als zeit- und zweckgebundene Vereinbarung definiert? Und das der Philosoph Kwame Anthony Appiah als notwendige Lügen ( «lies that bind») beschreibt?
Kein Sein, sondern ein Werden
Notwendige Lügen: Mit dieser Beschreibung sind wir bei der Identität angelangt, um die es hier eigentlich geht – bei der Markenidentität und der Corporate Identity. Denn diese ist nicht nur die ehrlichste Identität, weil sie ihre Zweckgebundenheit offen zur Schau stellt, sondern sie ist auch prozessual das Vorbild dafür, wie Identität heute interpretiert werden sollte: als etwas Gemachtes und künstliches Generiertes. Anders formuliert: Identität ist kein ewiges Sein, sondern ein ständiges Werden.
Identitätsbasierte Markenführung – aktueller denn je
Identität als permanente Bewegung, als Verlauf, der zwar eine Richtung hat und dennoch ständig mäandriert: Dieses Bild, das an Flüsse erinnert und sich deutlich von überkommenen Stammes- und Wurzelnanalogien unterscheidet, ist ein Bild, das echten Markengestalterinnen gefallen dürfte. Und wem unter den Marketing-Kollegen dieses Bild nicht gefällt (zum Beispiel, weil Markenarbeit harte Arbeit ist), dem sei Folgendes empfohlen: Schauen Sie sich die nachstehende Folie an. Kaufen Sie dieses Buch: «Identitätsbasierte Markenführung» Und studieren Sie kurz folgende Zahlen, die Roland Berger im Whitepaper zum Purpose-Prinzip anführt (ebenfalls lesenswert, dieses Paper):
«85 % aller Unternehmen, die von Werten getrieben werden, wachsen. Bei den nicht wertgetriebenen Unternehmen sind es lediglich 42 %.»