Kulturschock Schule

Ich gehörte mal zu einer Spezies, die heute händeringend gesucht wird: Ich war mal Lehrer. Allerdings habe ich den Lehrerberuf schnell wieder an den Nagel gehängt. Nicht wegen der Schüler, sondern wegen des Schulsystems. Und wegen meiner tief sitzenden Aversion gegenüber der DDR. 

 
 

Es ist zehn Jahre her, da dachte ich: Ich mag Kids. Ich vermittle gerne Wissen. Ich werde also Lehrer! Eine gute Entscheidung, wie mir schien. Allerdings hatte ich etwas übersehen: Wer Lehrer wird, entscheidet sich nicht für eine neue Tätigkeit, sondern für ein neues System. Ein System, das so ganz anders ist als andere Systeme. Und das mich mit seinen Grundannahmen und in seiner Funktionsweise ziemlich geschockt hat – kulturgeschockt, um genau zu sein.

Was diesen Kulturschock ausgelöst hat? Der selbstreferentielle Struktur-Konservativismus der Institution Schule. Und ihre Funktionsweise als kollektive Disziplinierungsanstalt. Diese Charakterisierung kommt übrigens von Michel Foucault, den ich zwar nicht gelesen, dafür aber verstanden habe: Dank dem Schulwesen und dank der Pädagogischen Hochschule. Denn was man in den heiligen Hallen des Erziehungswesens erleben darf, ist Foucault par excellence:

«Schulen haben die gleichen sozialen Funktionen wie Gefängnisse und Irrenhäuser - sie definieren, klassifizieren, verwalten und regulieren Menschen.“ Michel Foucault


Da sagte man uns, wann wir in die Pipi-Pause gehen durften. Da mussten kurze Unterrichtslektionen seitenlang scheinreflektiert werden. Da wurden auf der Metaebene stundenlang fromme Sinnsprüche vorgetragen, die auf der Handlungsebene regelmässig ad absurdum geführt wurden. Komisch, dachte ich damals. Und irgendwie seltsam. Genauso seltsam, wie die langen Diskussionen über Fahrradständer, Handyverbote und Schulstifte, welche später in den Lehrerzimmern geführt wurden. Alles sehr selbstbezüglich, sehr kleinteilig, sehr weltfremd.

Das sekterische System Schule

Das wirklich Komische dabei: Die Ausbildung an der PH, bzw. der dortige Initiationsprozess, kam mir wie der Übertritt in eine Sekte vor: einer Sekte mit eigenen Riten, eigener Sprache und eigenen Glaubenssätzen. Und mit sehr hohen Mauern und schmalen Horizonten.

 Dabei hätten Bildungsstätten doch eine andere und ausserordentlich vornehme Aufgabe: nämlich Horizonte zu öffnen, Lust aufs Leben zu wecken und die Jungmenschen dabei zu unterstützen, die Welt lernend zu entdecken. Aber ich habe grosse Zweifel, ob Schule dieser Aufgabe gerecht wird. Weil sie erstens eine lehrende, aber keine lernende Organisation ist, und zweites, weil Schule nicht zielpublikumsgerecht ist.

Schule wird gemacht für die Lehrer – für die Schulleitungen, die Schulpflegschaften und einen riesigen pädagogisch-industriellen Komplex. Aber nicht für die Schülerinnen und Schüler. Und genau das hat mich erschreckt: Dass sich das Schweizer Bildungssystem, dieser 40 Milliarden Steuerfranken schwere Moloch mit beinah einer Million Lernenden und 120 000 Lehrkräften, ein geschlossenes System ist, das oft sehr sinnfrei und menschenunfreundlich agiert. Mein Eindruck: Das ist ja wie in der DDR!

 Über Menschen reden, aber nicht mit Menschen – das zum Beispiel ist DDR. Und sich als glücksbringende Institution zu begreifen, ohne seinen eigenen Anspruch mit der Wirklichkeit abzugleichen – auch hier zeigen sich Parallelen zwischen dem ehemaligen Arbeiterstaat und dem heutigen Bildungssystem. Dabei wäre es doch so einfach: Man könnte die Schüler ja mal fragen, was sie von der Schule halten – als Kundenbefragung und zur Gewinnung von relevanten Insights. Allerdings sind Kundenbefragungen im Schulbetrieb nicht vorgesehen. Warum nicht? Weil es erstens die grösste Revolution im Schulwesen wäre, Schüler als Kunden zu begreifen. Und weil es zweitens das Rollenverständnis des Schulbetriebs unterminieren würde, wenn aus Betroffene Beteiligte werden. Stattdessen pflegt man lieber ein leichtes Grundmisstrauen gegenüber seinen Anvertrauten und es stellt sich der Verdacht ein: Die Schule braucht genau die Unmündigkeit, die sie angeblich bekämpfen möchte.

Ein defizitorientierte System der Gängelung  

Das Tragische dabei: Das defizitorientierte System der Gängelung betrifft nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer und die Art und Weise, wie Schulen geführt werden – als ein träges System, das nicht Exzellenz anstrebt, sondern auf Mittelmässigkeit geeicht ist. Was dabei auffällt: Die Fixierung auf uniforme Mittelmässigkeit hat viel mit Angst zu tun. Eine Angst vor Veränderung, eine Angst vor Innovation und Wandel. So habe ich schon nach wenigen Wochen als Pauker gelernt: Wage es ja nicht, über den Tellerrand hinaus zu denken und grundlegende Fragen zu stellen – das können Oberlehrer gar nicht ab und führt zu schweren Koliken im Lehrkörper. Übrigens: Der grosse Niklas Luhmann hat in diesem Zusammenhang vom «Reflexionsproblem im Erziehungssystem» gesprochen. Und der kleine Baron hatte den Eindruck: Weil in der Schule so vieles unreflektiert ist (die Grundannahmen, das eigene Nutzenversprechen, die zentralen Ziele), zeichnet sich das System durch eine eklatante Hilf- und Orientierungslosigkeit aus, an der alle leiden: die Schüler, die Lehrer, die Eltern und die Gesellschaft.

Grosse Ansprüche, kleine Wirklichkeit

Der wesentliche Grund für diese Hilflosigkeit ist die Widersprüchlichkeit des Schulsystems: Da wird zwar von Selbstwirksamkeit gesprochen, aber auf permanentes Drangsalieren gesetzt. Da werden Lernziele proklamiert, die aber mit sputender Zuverlässigkeit verpasst werden. Da wird von individuellem Lernen geredet und gleichzeitig wird 14-jährigen Schülern noch nicht mal zugetraut, ihr Namenschild eigenständig anzuschreiben. Irgendwie lächerlich, das Ganze. Eine Lächerlichkeit, die nicht nur mir, sondern auch den Schülerinnen aufstösst. Und die – schlimmer noch – Methode hat. Es ist diese Inkohärenz der Institution Schule, welche die pubertierenden Schüler spüren und gegen die sie aufmucken. Und es ist diese Widersprüchlichkeit, die mir die Lust an Schule genommen hat.

Mehr Makromanagement statt Mikromanagement

Mein Fazit: Schule – das ist viel operative Hektik, viel Mikromanagement, viel Wandern im kratzigen Unterholz. Mit diesen Wanderungen kann man vielleicht Menschen anlocken, die gerne Dorfpolizisten spielen und es schätzen, als Alphatiere im Streichelzoo agieren zu dürfen. Aber wer will das schon.

Was also Not tut, sind mehr Makromanagement und klare Strategien. Dazu müsste man sich zuerst von der Vorstellung DER One-size-fits-all-Schule verabschieden. Schliesslich gibt ja auch nicht DAS Auto, DIE Konfitüre und DEN Menschen (ausser in der DDR). Dann müsste man dringendst die Lehmschicht des pädo-administrativen Mittelbaus entmachten (die Schulbehörden, die PHs, die Lehrplanplaner, die Evaluationsindustrie). Und zu guter Letzt müsste man den Schulen die Gestaltungsfreiheit geben, echte Visionen zu entwickeln und diese kohärent umzusetzen.

Schüler machen Freude, alles andere aber nicht.

Sie sehen: Ich plädiere für mehr unternehmerisches Denken im Schulwesen. Manche mögen bei dieser Vorstellung einen Schreck bekommen. Aber wissen Sie, was mich erschreckt hat? Wie viele Schüler im aktuellen System den Anschluss verlieren, wie viele Ressourcen (Zeit, Leidenschaft, Neugierde) vergeudet und wie viele Lehrpersonen verschlissen werden. Darum bin ich kein Lehrer mehr, doch glauben Sie mir – wenn ich an meine Schülerinnen und Schüler zurückdenke, finde ich das immer noch sehr, sehr traurig.

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