Über Michelangelo und die Kreativität

 

Der letzte Blogbeitrag war ein Abgesang auf das System Schule. Darum erlaube ich mir diesmal, das Gegenteil anzustimmen: Nämlich ein hohes Lied. Allerdings nicht auf strukturkonservative Organisationen, sondern auf das, was diese herausfordert – auf die Kreativität nämlich!

 

Jeff Koons, Michael Jackson and Bubbles, 1988; collection SFMOMA

Ich muss gestehen: Beim letzten Mal habe ich Ihnen einen Wolf im Schafspelz verkauft. Denn bei meinen paar Zeilen über die Schule ging’s eigentlich nicht um Lehranstalten. Sondern um selbstreferenzielle Organisationen und strukturkonservative Institutionen. Diesen Gebilden begegne ich öfters – früher mehr, heute weniger. Nicht nur bei staatsnahen Betrieben, sondern auch bei Unternehmen. Wobei es selbstreferenzielle Unternehmen eigentlich gar nicht geben dürfte.  

Selbstreferenzialität als Selbstschutz

Denn Selbstreferenzialität – das ist, wenn das Innen wichtiger ist als das Aussen, wenn die Aufrechterhaltung des eigenen Systems wichtiger ist als die Anpassung an das, was in der Welt passiert. Selbstreferenzialität kann man also mit Selbstbezüglichkeit übersetzen und ist eine spezifische Form der Betriebsblindheit. Der Vorteil dieser partiellen Wahrnehmungsstörung: Sie schützt vor Veränderungen. Und sie schützt vor der Eigenschaft, die Veränderungen erst handhabbar und produktiv macht – vor Kreativität. 

Wer kreativ denkt, denkt in Möglichkeiten. Klingt nett, ist es aber nicht. Denn Kreative sagen: «So, wie es ist, so muss es nicht sein.» Doch sagen Sie diesen Satz mal im Real Life –Ihrem Ehepartner, Ihrem Chef, Ihrem Unternehmen. Die wahrscheinliche Reaktion: gehobene Augenbrauen und eine gerunzelte Stirn. Das ist nachvollziehbar, denn Kreativität öffnet nicht nur neue Möglichkeitsräume, sondern auch die Büchse der Pandora, der womöglich das entspringt, wovor sich Bürokraten, Controller, Compliance-Manager und Ehepartner fürchten: Ein Mehr an Komplexität und Ambiguität, ein Weniger an Kontrolle, eine Herausforderung von bewährten Strukturen.  

Kunst und Chaos

«So, wie es ist, so muss es nicht sein»: Diese Denkweise ist Basis von Innovationen (und Revolutionen natürlich auch). Und sie ist die Grundlage von dem, was man heute unter Kunst versteht, dieser grösstmöglichen Ausprägung jedweder Kreativität. Doch das mit der Kunst ist so eine Sache und nicht jeder liebt die holden Musen. Dafür gibt es gute Gründe – dieselben Gründe übrigens, welche zur tiefsitzenden Kreativitätsaversion führen. Denn Kunst und Kreativität haben eines gemein: Das Chaos. 

«Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.» Das sagte Nietzsche. Und die alten Griechen würden ergänzen: Wo kein Chaos ist, kann auch kein Kosmos entstehen. Doch gerade diesen Kosmos haben die Griechen errichtet: Mit ihrer Philosophie, mit ihrer Staatsform, mit ihren Tempeln und Theatern. Weil sie das Chaos in neue Ordnungssysteme gebracht haben – dank ihrer Kreativität. 

Aus dem Chaos einen Kosmos machen

Aus dem Chaos einen neuen Kosmos machen – das leistet intelligente Kreativität. Wobei man sich allerdings der Tiefenwirkung dieses Verfahrens bewusst sein sollte, denn wenn sich Ordnungssysteme verändern, dann verändern sich nicht einzelne Wörter oder Sätze (damit könnten Kreativskeptiker ja noch leben), sondern die grundlegende Grammatik. Darum, weil ganze Koordinatensysteme herausgefordert werden, sind Kunst und Kreativität immer beides – schwer verständlich und intellektuell produktiv. Sie sind produktiv und bereichernd für alle, die bereit sind, neue Leseleistungen zu erbringen und sich auf veränderte Sinnbezüge einzulassen. Das kann aber nicht jeder. Das muss auch nicht jeder. Aber komischerweise will das heute jeder: Kreativ sein.

Kitsch als Vulgärkunst für Denkfaule

Hier kommt nun die kleine Schwester der grossen Kunst zum Zuge: Der Kitsch. Also Bob Ross anstatt Gerhard Richter, André Rieu anstatt Rachmaninow, schöne Sinnsprüche an der Wand anstatt guter Gedanken im Kopf. Das Spannende dabei: Viele halten Kitsch für Kunst, weil Kitsch Kreativität verspricht, ohne kreativ zu sein – ohne anfängliches Chaos und die Herausforderung bestehender Strukturen. Kitsch funktioniert also ähnlich wie Cola Zero. Oder wie ein Impfstoff: Er simuliert eine Wirkung und erspart einem die unerwünschten Nebenwirkungen, nämlich das Denken, das Hinterfragen und das Verändern. 

Kitsch ist legitim (aber langweilig), Kunst ist legitim (aber anstrengend), wobei im Unternehmenskontext eigentlich nur folgende Frage relevant ist: Was soll mit Kreativität erreicht werden? Sollen neue Konzepte entwickelt werden, um besser mit der Komplexität der VUKA-Welt umzugehen? Dann führt kein Weg an einer intelligenten Kreativität vorbei. Oder soll es lieber ein bisschen Selbstreferenzialität und Kreativkitsch sein? Dann würde der Frechdachs im Baron Sie an den Postershop von Ikea verweisen und eine breite Auswahl an Kuschelrock-CDs empfehlen. Doch es gibt ja noch den anderen Baron (den, den Sie gerade buchen möchten) und der hat folgende zwei Tipps auf Lager: 

 
  • Der Herd-Tipp:

    Bei fast jedem Haushaltsgerät, das Strom zur Wärmeerzeugung verwendet, gibt es eine Widerstandsspule – also etwas, das durch eine Störung des Elektronenflusses Reibung erzeugt. Dadurch wird Energie freigesetzt und so werden – Beispiel Kochen – neue Aggregatszustände erreicht. Gleiches gilt für die Kreativität: Auch hier wird dank gezielter Störungen Energie erzeugt, die neue Erscheinungsformen möglich macht. Übrigens: Dieser Einwurf ist auch eine Erklärung, warum Think Popcorn Think Popcorn heisst – weil Think Popcorn aus schnödem Mais einen schmackhaften Snack werden lässt. Für das grosse Kino.

 
 
  • Der Michelangelo-Tipp: 

    In der archaischen Kunst wurden Menschen mit durchgestreckten Beinen dargestellt. Anders in der Antike und ab der Renaissance. Hier werden Menschen kontrapostisch moduliert: mit einem festen Stand- und einem flexiblen Spielbein. Dieses kontrapostische Denken hilft auch beim Spagat zwischen den zwei Polen, denen Organisationen ausgesetzt sind: Der Aufrechterhaltung von bestehenden Strukturen und dem Wunsch, sich dank Kreativität neue Zukunftsräume zu erschliessen. Darum mein Tipp: Nehmen Sie sich Michelangelo zum Vorbild, denn der zeigt deutlich, wie wahre Stabilität funktioniert: Mit einem festen Stand- und einem freien Spielbein. 

 

Übrigens: Kann gut sein, dass ich in einem der nächsten Artikel mal ein paar kreative Marken-Ideen zum Besten geben – vom Bio-Puff bis zu “Bauen für Greta” Darum: Stay tuned.

 
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